26.01.2022
Fachtag Fahrplan Ganztag 2026: Mega-Thema und Herkulesaufgabe
26.01.2022 Ab 2026 wird es einen Rechtsanspruch für eine Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern geben. Im Rahmen eines digitalen Fachtags diskutierten wir mit den familienpolitischen Sprecher*innen der NRW-Landtagsfraktionen, welche Ziele, Chancen und Herausforderungen mit dem Rechtsanspruch verbunden sind. Eins zeigte sich in der Diskussion deutlich: Die Umsetzung des Rechtsanspruchs wird eine Herkulesaufgabe für alle Akteure werden.
Hier geht es zum Cryptpad, auf dem wir den Fachtag dokumentieren, Präsentationen zum Download zur Verfügung stehen und die Namen der Expert*innen stehen, die Schlaglichter auf das Thema geworfen haben.
„Es dauert zu lange! Wir brauchen mehr Tempo!“ Mit einem leidenschaftlichen Appell beendete unser Vorstand Antje Beierling die Podiumsdiskussion mit Josefine Paul (Bündnis 90/Grüne), Charlotte Quik (CDU), Dennis Mälzer (SPD) und Marcel Hafke (FDP). Antje Beierling rief die Politiker*innen auf, „ernsthaft zusammen zu arbeiten“, nur so könne eine gute Lösung für Kinder und Eltern in NRW gefunden werden. Antje Beierling hat am Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz für Ü3-Kinder miterlebt, wie lange es dauert, bis aus einem Gesetz ein verlässliches Angebot wird: „Beim Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz hat es mehr als 20 Jahre gedauert, bis Eltern sich auf die Strukturen verlassen konnten – diese Zeit haben Kinder und Eltern nicht, wenn es um den Platz in der Ganztagsbetreuung geht“, mahnte Antje Beierling. Und so startete auch die Moderatorin Inge Michels in die Veranstaltung, in dem sie von dem „Mega-Thema Bildung und Betreuung“ sprach.
Vor der Podiumsdiskussion beleuchteten verschiedene Experten und Akteure aus dem Bereich Ganztag in Schlaglichtern, was Ganztag eigentlich bedeutet:
Perspektive der Kinder
Prof. Dr. Markus Sauerwein von der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf führt aus, was Kinder sich vom Ganztag wünschen. „Kinder haben ein Recht auf ungestörtes, freies Spiel. Sie wünschen sich Räume, um sich auszuprobieren und wollen neue Dinge erleben.“ Der Ganztag brauche Flächen und Räume, in denen Kinder sich zurückziehen könnten und Angebote, aus denen sie frei wählen können. Sauerwein zitierte aus dem Buch „Momo“, um deutlich zu machen, wie ein Ganztagsangebot auf keinen Fall aussehen sollte. Dort nämlich werden Kinder in „Kinder-Depots“ gesperrt, ohne jede Wahlfreiheit, was das Spielen oder die Beschäftigung angeht.
Perspektive der Eltern
Die alleinerziehende Mutter und VAMV NRW Aufsichtsrätin Ute Durchholz vertrat die Perspektive der Eltern. Sie formulierte den Wunsch vieler Eltern: „Ich wünsche mir eine unbeschwerte Kindheit für meinen Sohn und den Ganztag als einen Ort, an dem mein Sohn Bildung und Betreuung erhält.“ Sie forderte, dass im Ganztag ein ganzheitlicher Blick auf das Kind geworfen werden und es nicht, wie in der Schule, auf seine schulischen Leistungen reduziert wird. Fördermaßnahmen beispielsweise für Kinder mit Dyskalkulie oder Lese-Rechtschreibstörungen sollten im Ganztag integriert sein, denn: „Die Zeit nach dem Ganztag sollte Familienzeit sein und nicht mehr für Fördertermine oder die Hausaufgaben genutzt werden müssen.“
Perspektive der Mitarbeitenden
Das Thema Hausaufgabenbetreuung griff Isabelle Harbrink von ver.di Südwestfalen, Fachbereich C - Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen auf. Sie vertrat beim Fachtag die Perspektive der Mitarbeitenden und schockierte die Teilnehmenden mit Erzählungen, wie Ganztag aktuell gelebt wird: „Uns wurde von Einrichtungen berichtet, in denen eine Betreuungskraft 45 Grundschulkinder betreut hat.“ Zeit für eine Pause oder für Toilettengänge bliebe unter diesen Arbeitsbedingungen nicht. „Der Personalmangel ist schon jetzt dramatisch spürbar“, so Harbrink. Pädagogen im Ganztag stünden schon jetzt häufig vor dem Dilemma, dass sie unter Bedingungen arbeiten müssten, die nicht ihren Ansprüchen an ihre Arbeit mit den Kindern gerecht werden würden. „Das wird 2026 nicht funktionieren. Nicht, wenn nicht schnellstens Ausbildungskapazitäten hoch gefahren, Räumlichkeiten um- und ausgebaut und attraktivere Arbeitsbedingungen geschaffen werden.“ lautete ihr Fazit.
Perspektive der Träger
Mechthild Thamm, Leiterin der Fachgruppe Kinder und Familie vom Der Paritätische NRW, sah große Herausforderungen auf die Politik zukommen. Als Vertreterin der Träger kritisierte sie vor allem die „Segmentierung von Schule und Betreuungsangebot“ und forderte auf, beide Bereiche besser miteinander zu verzahnen. Schule und Jugendhilfe müssten „auf Augenhöhe“ kooperieren. Ein eigenes Ausführungsgesetz für die Ganztagsbetreuung in NRW sei unabdingbar, um im „zähen Ringen der verschiedenen Perspektiven“ gute Lösungen zu finden. Was NRW jetzt brauche, seien „Akteure mit hellen Ideen“, so Thamm. Und an die Landespolitiker*innen gerichtet sagte sie: „Die Politik kann die Schraube in die richtige Richtung drehen.“
Perspektive der Kommunen/Kosten
Bevor die Podiumsdiskussion mit den Politiker*innen aber startete, sorgte Dr. Anna M. Makles vom WIB - Wuppertaler Institut für bildungsökonomische Forschung, Bergische Universität Wuppertal für Schweigen in der Runde. „Ich fürchte, dass ich nicht nur gute Nachrichten habe“, begann sie mit ihrem Schlaglicht, in dem es um die Kosten für die Umsetzung des Rechtsanspruchs ging. „Das, was sich Politik, Kinder, Eltern, Mitarbeitende und Träger wünschen kostet richtig, richtig viel Geld.“ Alle bisherigen Berechnungen der Kosten für die Umsetzung des Rechtsanspruchs seien nicht ausreichend. Eine Studie mit der Stadt Frankfurt habe gezeigt, dass es aufgrund der heterogenen Situation in den Kommunen sehr komplex sei, verlässliche Berechnungen durchzuführen. Dr. Anna Makles zeigte eindrucksvoll, dass die Kosten für einen Ganztagsplatz schnell doppelt so hoch sein könnten, wie bisher angenommen.
Podiumsdiskussion: Einigkeit in allen Fraktionen – Personalmangel ist das größte Problem
In der anschließenden Podiumsdiskussion äußerten sich die familienpolitischen Sprecher*innen der NRW-Landtagsfraktionen zu ihren Visionen vom Ganztag und den Herausforderungen, die der Rechtsanspruch mit sich bringt.
Charlotte Quik von der CDU-Fraktion sah die Aufgabe der Politik vor allem darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit der Ganztag gelingen und Kinder daran partizipieren können. Auch Josefine Paul von Bündnis 90/Grüne forderte, Voraussetzungen zu schaffen, dass Jugendhilfe und Schule auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. Marcel Hafke von der FDP äußerte daran seine Zweifel, denn bei Schule und Jugendhilfe handele es sich um „zwei sehr versäulte Systeme“. Diese Systeme zusammenzubringen, um einen guten Ganztag zu realisieren, sei „eine Herkulesaufgabe.“ Dennis Mälzer von der SPD-Fraktion bezeichnete das Schulministerium gar als „Moloch, der bislang jede gute Idee klein bekommen“ hätte. Und so identifizierte er auch nicht die Finanzierung des Rechtsanspruchs als das Hauptproblem: „Die anderen Probleme sind viel größer: Wir brauchen Räume und Fläche für jährlich 30.000 neue Plätze und Personal.“ Auch für die FDP sei der Personalmangel die zentrale Herausforderung, so Marcel Hafke. Deshalb müsse die Aufgabe nach der Landtagswahl im Mai sein: „Fachkräfte, Fachkräfte, Fachkräfte ausbilden.“